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Schmerz erfordert interdisziplinäre Behandlung

Chronische und akute Schmerzen sind in vielen Fällen Ergebnis vieler Faktoren und erfordern deshalb auch das Zusammenwirken vieler medizinischer Fachrichtungen. Das betonen Experten im Vorfeld des 6. Wiener Schmerztages am morgigen Freitag. "Schmerztherapie soll Patienten die volle Lebensfreude und Reaktionsfähigkeit zurückgeben. Das gelingt am besten durch komplexe Sichtweisen", erklärt der Anästhesist Wilfried Ilias, Ehrenpräsident der österreichischen Arbeitsgemeinschaft zur Schmerzbekämpfung "Contra Dolorem".
Missbrauch schmerzt
Neben Unfällen oder körperlichen Leiden lässt auch die Psyche häufig Schmerz entstehen. Beispiele liefert die Gynäkologin Micha Bitschnau. "Viele Frauen haben massive Schmerzen im Unterbauch, in der Vulva und beim Geschlechtsverkehr oder Angst vor Intimberührungen; teils ertragen sie nicht einmal gynäkologische Untersuchungen. Bringt die umfassende medizinische Abklärung keine Ergebnisse, so müssen auch psychische Ursachen in Erwägung gezogen werden. Sexueller Missbrauch, der teils schon lange Zeit zurückliegt, spielt häufig mit, doch wird das einfühlsame Nachfragen in der Anamnese meist ausgeklammert."
90 Prozent der Verdachtsfälle in Mitteleuropa dürften tatsächlich auf sexuellen Missbrauch zurückgehen, wobei der Großteil innerhalb der Familie geschieht. Schwierig ist die Feststellung laut Bitschnau besonders deshalb, da in neun von zehn Fällen keine äußeren Verletzungen oder Merkmale sichtbar bleiben. Langzeitsymptome reichen jedoch von Depressionen und Essstörungen bis zu körperlichen Schmerzen. Wichtig sei deshalb, dass der Arzt nachfragt, ins Gespräch kommt, auch alte Geschichten ernst nimmt und bei Bedarf eng mit Kollegen etwa aus Psychotherapie oder Anästhesie zusammenarbeitet.
Patient im Mittelpunkt
Eine neue Antwort auf das Schmerzproblem im Spital sind Akutschmerzdienste, für die Schmerzfachkräfte der Pflege - in der Regel speziell ausgebildete Schwestern - im Team mit Schmerzmedizinern zusammenarbeiten. "Schmerzvisiten bieten eine vertrautere Situation für den Patienten als normale Visiten", erklärt die Anästhesistin Renate Barker vom Wiener St.-Elisabeth-Spital. Änderungen der Therapie werden auf Basis der Einschätzung des Patienten selbst, der Angehörigen und der Ärzte vorgenommen, zudem versuche man die Patientensicherheit zu erhöhen, wofür Ratschläge für Schmerzmaßnahmen zuhause oder Rückrufnummern im Spital für den Bedarfsfall beitragen.
Auch in der Wundversorgung ist interdisziplinäre Schmerzbehandlung von Vorteil, erklärt der Chirurg Peter Koo. "Viele Patienten mit chronischen Wunden sind nach ihrer Spitalsentlassung zuhause isoliert. Eine soziale Anamnese sollte der Schmerzmittelwahl vorausgehen, da für viele Betroffene die Berufsfähigkeit oder Arbeitsplatz-Sicherheit die zentrale Frage ist." Durch enge Zusammenarbeit von Wundmanagement und Chirurgie kann der Patient besser informiert und somit mündiger werden, was eine frühere Spitalsentlassung begünstigt.
Frühinvalidität bekämpfen
Längst hat sich die Schmerztherapie etabliert und wird nicht mehr wie in ihren Anfängen der 80er-Jahren belächelt, berichtet Ilias. "Schon jedes dritte Ordinationsschild beinhaltet dank Diplom- und Master-Fortbildungen den Zusatz 'Schmerztherapie' und kein medizinischer Kongress lässt Schmerzen mehr aus, da diese in jeder Fachrichtung auftauchen. Das zeigt, dass der Schmerz über Jahrhunderte als wichtiger Aspekt der Krankheit unterschätzt wurde. Heute setzt sich die Auffassung immer mehr durch, dass chronischer Schmerz eine eigene Krankheit ist, da er meist keine normale Lebensführung zulässt."
Gezielte interdisziplinäre Schmerzbehandlung wird vor allem in den Schmerzzentren verwirklicht, die derzeit immer häufiger an den Spitälern entstehen. Die Zusammenarbeit zahlt sich aus, betont Ilias gegenüber pressetext. "Die Erfolgswahrscheinlichkeit ist viel höher, als wenn sich ein einzelner Facharzt alleine abplagen muss. Will die Politik die Frühpensionen reduzieren, so muss diese Form der Behandlung noch weiter verbessert und bedarfsorientiert vertieft werden", fordert der Experte.
Autor: pressetext.de; Johannes Pernsteiner (Stand: 22.03.2012)