Anzeige:
Anzeige:

RATGEBER - Schmerzen

Wenn es keine körperliche Ursache gibt

Viele Schmerzpatienten haben eine lange Odyssee durch die verschiedensten Praxen hinter sich, ohne dass ein Arzt die Ursache ihrer Schmerzen finden konnte. Jeder neue Arzt weckt erst einmal Hoffnungen: Vielleicht wird ja diesmal endlich etwas gefunden!

Anzeige:
Unzählige Untersuchungen bis hin zu Operationen werden durchgeführt, meist mit einem enttäuschenden Ergebnis. Oft ist es danach nicht besser, manchmal sogar schlimmer.

Am Ende sind sowohl Patient als auch Ärzte verzweifelt, und der Schmerzgeplagte muss sich mit dem Satz zufrieden geben: „Tut uns leid, da können wir nichts mehr machen, das muss wohl psychisch sein.“

Der Patient bekommt das Gefühl, er sei ein Simulant, er fühlt sich nicht ernst genommen und zudem ungerecht behandelt. Mit den unerträglichen Schmerzen ist er doch eigentlich schon genug geplagt, und jetzt soll er auch noch „verrückt“ sein?

Der eingebildete Kranke?

Tatsache ist, dass bei einem Großteil der Patienten mit chronischen Schmerzen keine körperliche Ursache für den Schmerz gefunden wird.
Häufig ist es auch so, dass eine Störung vorliegt, die aber das Ausmaß und die Schwere der Schmerzen nicht erklären kann.

Mediziner sprechen dann von einem „psychogenen Schmerzsyndrom“ oder von der „anhaltenden somatoformen Schmerzstörung“. Es handelt sich hierbei um eine eigenständige und anerkannte Erkrankung, die alles andere als eine Seltenheit ist.

Keinesfalls bildet sich der Betroffene die Schmerzen dabei ein, wie manchmal behauptet oder gedacht wird.
Der Grund für diese Fehleinschätzung ist, dass in vielen Köpfen die veraltete Vorstellung besteht, nur eine körperliche Ursache könne Schmerzen erzeugen.

Aus zahlreichen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte weiß man jedoch, dass dem nicht so ist - man denke nur an die Männer mit den Geburtsschmerzen.

Die heute gültige Definition der „Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes“ (IASP) bringt es noch einmal kurz und knapp auf den Punkt: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“

Auffällige Gemeinsamkeiten bei psychisch verursachten Schmerzen

Charakteristisch für das psychogene Schmerzsyndrom ist, dass schon seit mindestens sechs Monaten Schmerzen bestehen, die nicht ausreichend körperlich begründbar sind.

Der Beginn der Schmerzerkrankung steht zudem in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit emotionalen Konflikten, einem besonders kritischen Lebensereignis oder psychosozialen Problemen.

Eine Reihe von Merkmalen sind typisch für dieses Krankheitsbild und helfen, es von körperlich bedingten Schmerzerkrankungen abzugrenzen.
So beginnen die Beschwerden zum Beispiel typischerweise vor dem 35. Lebensjahr.

Frauen sind im Verhältnis zwei- bis dreimal so häufig betroffen wie Männer.

Die Schmerzen beginnen meist in einem begrenzten Gebiet, dehnen sich aber im Laufe der Erkrankung stark aus.
Die Schmerzintensität ist sehr hoch, beschwerdefreie Intervalle gibt es kaum. Betroffene beschreiben die ständig vorhandenen Schmerzen als „fürchterlich“, „grauenhaft“ oder „schrecklich“.

Welche Körperregionen betroffen sind, ist von Patient zu Patient verschieden - häufig sind es jedoch Bereiche an Armen oder Beinen, im Gesicht oder am Unterleib.

Der Schmerzcharakter ist eher diffus, kann nicht eindeutig beschrieben werden und verändert sich oftmals auch noch während der Erkrankung.

Seit ich diesen Unfall hatte...

Obwohl die Schmerzerkrankungen von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sind und man mit Sicherheit weit davon entfernt ist, den komplexen Entstehungsmechanismus gänzlich zu durchschauen, treten immer wieder auffällige biographische Ähnlichkeiten bei den Patienten mit chronischen Schmerzen zutage.

Das betrifft zum Beispiel den Beginn der Erkrankung: Es passiert ein kleiner, alltäglicher Unfall oder eine harmlose Verletzung. Die Schmerzen gehen dann aber nicht wie erwartet weg, sondern bestehen hartnäckig fort, und die Schmerzkrankheit nimmt ihren Lauf.

Viele der Patienten waren bis zum Beginn ihrer Schmerzen nie ernsthaft krank und hatten 20 bis 30 Jahre lang pflichtbewusst und hart durchgearbeitet.

Oft ist auch ein enger zeitlicher Zusammenhang der Schmerzentstehung mit einer schwierigen Lebenssituation vorhanden, zum Beispiel gab es einen Konflikt im Betrieb oder in der Familie, ausgelöst etwa durch das Erwachsenwerden der Kinder.

Auf jeden Fall fehlt bei den Betroffenen selten ein Gefühl von Ohnmacht oder das Erlebnis, plötzlich nicht mehr „Herr oder Herrin des Geschehens“ zu sein.

Wie entstehen Schmerzen ohne körperliche Ursache?

Körperliche Schmerzen verursachen psychisches Leid. Genauso gut können sie auch die Folge von psychischen Vorgängen sein.

Es gibt verschiedene, zum Teil recht komplexe psychologische Ausführungen, die diesen tatsächlich bestehenden Zusammenhang zu erklären versuchen.

Im Rahmen dieses Buches können sie jedoch nur ansatzweise erläutert werden. Die folgenden drei „Theorien zur psychisch verursachten Schmerzentstehung“ erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Vollständigkeit.

Theorie 1

Die Schmerzerkrankung ist der körpersprachliche Ausdruck von oft schon in jungen Jahren erduldetem seelischen Leid. Man spricht auch von „Konversion“ (lat.: conversio = Wendung, Veränderung).

Dies ist eine aus der Psychoanalyse stammende Erklärung zur Schmerzentstehung, nach der gewissermaßen eine Umkehrung stattfindet - aus dem seelischen Schmerz wird
ein körperlicher.

Wenn man sich näher mit der frühen Lebensgeschichte von chronischen Schmerzpatienten auseinandersetzt, stellt man tatsächlich fest, dass viele von ihnen eine harte Kindheit und Jugend hatten.

Zuwendung und Zärtlichkeit von den Eltern waren Mangelware, Misshandlungen oder sexueller Missbrauch keine Seltenheit. Oft hat auch der Ort, an dem es schmerzt, eine besonders symbolträchtige Bedeutung, die aber erst
bei genauerem Hinsehen deutlich wird.

Ein Beispiel für eine solche Konversion ist ein bestimmter Umgang mit Schuldgefühlen. Man stellt es sich in der Psychosomatik so vor, dass Schmerzen bewusst oder unbewusst quasi zur Sühne werden. Wenn es richtig weh tut, braucht man sich nicht mehr schuldig zu fühlen.

Ein anderes Beispiel für eine Konversion ist ein bestimmter Umgang mit Verlust. Wenn ein uns wichtiger Mensch stirbt oder aus anderen Gründen geht, dann ist das verletzend.
Manche Menschen zelebrieren den Schmerz nun richtiggehend. Kaum spüren sie ein Nachlassen des Verlustschmerzes, holen sie wieder Erinnerungen an die geliebte Person hervor, womit der Schmerz erneut auflebt.

In diesem Zusammenhang kann der Schmerz als der phantasierte Erhalt der Beziehung gesehen werden: Solange es schmerzt, kann die geliebte Person noch nicht ganz weg sein, man „spürt“ sie ja quasi noch.

Theorie 2

Die Schmerzkrankheit ist eine Art Stabilisator für ein existenziell bedrohtes Selbstwertgefühl. Wer z. B. schwere persönliche Niederlagen oder Misserfolge erlitten hat, hat sicher Schwierigkeiten, sein Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten.

In einem solchen Fall kann die Schmerzerkrankung eine „Krücke“ bieten. Wenn man alles verloren hat, inklusive der Selbstachtung, kann man immer noch das „leidende Opfer“, der „gestürzte Engel“ sein und sich an diesem Selbstbild festhalten.

Sobald man sich selbst - und anderen - glaubwürdig beschreiben kann, dass man zum Spielball eines übermächtigen Schicksals geworden ist, sind Misserfolge nicht mehr als ein persönliches Versagen anzusehen.

Eine Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit zu vergrößern, ist die Schmerzerkrankung. Für alles, was im Leben schief läuft, liefert der Schmerz eine Erklärung.

Theorie 3

Gefühle kommen nicht als Gefühle im eigentlichen Sinne, sondern in Form von körperlichen Spannungen zum Ausdruck.
Hierbei geht man davon aus, dass nach der Geburt bei allen Menschen Gefühle zunächst nur auf einer körperlichen Ebene erlebt werden. Erst im Laufe des Lebens findet dann eine Abkopplung der Gefühle vom Körper statt - dieser Vorgang wird als „Desomatisierung“ (somatisch = körperlich) bezeichnet.

Dass Gefühle jedoch immer in einem gewissen Maße mit Körperreaktionen verbunden sind, wird jeder bestätigen: keine Freude ohne Herzrasen, keine Angst ohne Schweißausbrüche.

Es wird nun angenommen, dass bei einigen Menschen diese Desomatisierung nicht stattfindet oder dass es im Laufe des Lebens wieder vermehrt zu einer Resomatisierung kommt: Gefühle werden also verstärkt über körperliche Symptome zum Ausdruck gebracht, zum Beispiel in Form von Schmerzen.



Newsletter Abbonieren



Wissen-Gesundheit im Netz

socials




loader