RATGEBER - Sex & Psyche
Die verdrängte Aggression
Tief in uns schlummern starke Triebe, die der Befriedigung unserer Lebensbedürfnisse, unserer Selbsterhaltung und unserem Schutz dienen. Zu diesen Trieben zählen zum Beispiel Hunger, Durst, die Pflege des Nachwuchses, das Bedürfnis nach Schlaf und die Sexualität. Die Aggression wird ebenfalls zu den Trieben gezählt, denn sie ist das „Werkzeug“, mit dem die Grundbedürfnisse notfalls eingefordert werden können. Allerdings besteht in einer zivilisierten Gesellschaft die Kunst im Umgang mit der Aggression darin, diese nicht impulsiv und ungefiltert auszuleben, sondern sie etwas zurückzuhalten und umzuwandeln. So wird sie gesellschaftsfähig.
Ein Beispiel hierzu: Wenn eine Frau vor den Augen ihres Partners von einem anderen fremden Mann angemacht wird, so hat dieser vielleicht spontan den Wunsch, dem Konkurrenten einen Kinnhaken zu versetzen oder ihn anzubrüllen. Geschickter und zivilisierter ist es allerdings, den Fremden charmant in das Gespräch einzubinden, ebenfalls mit seiner Frau zu flirten und ihr dann bei passender Gelegenheit seine Liebe zu zeigen, sie zu umarmen und ihr einen netten Kuss zu geben. Deshalb hat für Tiefenpsychologen die Aggression auch positive Seiten. Sie gibt die Kraft, ein Problem oder eine Widrigkeit anzupacken und zu bewältigen.
Zwischen Aggression und Sexualität besteht eine enge Beziehung: So kommt in jeder sexuellen Handlung eine Portion Aggression zum Vorschein, und jede aggressive Handlung ist auch ein bisschen sexuell gefärbt. Normalerweise besteht allerdings zwischen den beiden Trieben ein ausgewogenes Verhältnis. Ist dies der Fall, entlädt sich mit dem Orgasmus auch ein Teil des Frustes, der sich im Laufe des Tages angesammelt hat. Jede gute Liebesbeziehung besteht also aus liebevollen und aggressiven Bestrebungen. Gestört ist die Beziehung, wenn der Aspekt Aggression völlig fehlt. Dann kann es sein, dass es einfach an der Lust am Sex mangelt. Gestört ist die Beziehung aber auch, wenn die Aggression dominant wird. In der Psychoanalyse wird dies als „Triebdurchbruch“ oder „Entmischung“ bezeichnet. Doch nicht nur die absolute Dominanz oder das absolute Fehlen der Aggression führt zu Problemen in der Sexualität, sondern auch der innere Kampf von gegensätzlichen Impulsen: Wie in dem Fallbeispiel zu sehen war, entstand die Erektionsstörung, weil der Mann stark aggressiv gestimmt war und sich rächen wollte, aber gleichzeitig versuchte, die Aggression abzuwehren.
Auch eine Frau kann aggressiv in der Sexualität sein. Dies zeigt sie aber normalerweise indirekt. „Spitze Bemerkungen“, „die kalte Schulter“, „eiskaltes Abblitzen lassen“ sind die typisch weiblichen Waffen der Aggression. So gilt in der Psychoanalyse bei der Frau das Fehlen des Orgasmus (Anorgasmie) als eine Form der Aggression. Ein indirekter Angriff. Die wahren Botschaften an dem Partner könnten nämlich sein: „Du schaffst es nicht, mich zu erregen“, „Ich gebe Dir nicht, was Du willst“, „Ich lehne Dich ab“, „Ich räche mich“ usw.
Etwas anderes ist es mit dem Scheidenkrampf (Vaginismus), der so stark sein kann, dass nicht einmal ein Finger, geschweige denn ein Penis eindringen kann. Ihm gehen oft gewaltsame und traumatische Erfahrungen voran. Der Sex würde das erfolgreich Verdrängte – wie Missbrauch in der Kindheit – wieder lebendig machen. Mittels des Scheidenkrampfes aber wird verhindert, dass die Erinnerung ins Bewusstsein dringt.
Zu einer Sexualstörung führt also nicht die bewusste, sondern die verdrängte Aggression.