RATGEBER - Sex & Psyche
Übersättigung
Bis zur „Ära“ Helen Singer Kaplan, der bekanntesten amerikanischen Sexualtherapeutin, hat sich die Sexualwissenschaft, vor allem unter den Pionieren der Sexualtherapie Masters und Johnson, fast ausschließlich mit Funktionen und Fehlfunktionen der Geschlechtsorgane beschäftigt. Die „verminderte sexuelle Appetenz (VSA)“, wie die Lustlosigkeit im Therapeutenjargon genannt wird, hat man lange nicht als Problem angesehen.
Mittlerweile aber hat man erkannt: Es verlieren immer mehr Menschen die Lust am Sex. In der Ambulanz der Abteilung für Sexualforschung an der Hamburger Universität wurden in den Jahren 1975 bis 1977 bei acht Prozent der Frauen Lustlosigkeit und bei 80 Prozent Erregungs- und Orgasmusstörungen diagnostiziert. Zwanzig Jahre später hatte sich das Verhältnis nahezu umgedreht: 74 Prozent der Frauen klagten darüber, einfach keine Lust mehr auf Sex zu haben, und nur noch 20 Prozent hatten Funktionsstörungen, obwohl die Lust vorhanden war. Auch bei Männern nimmt die Lustlosigkeit zu, wenngleich nicht so augenfällig wie bei den Frauen.
Wenn man nach Ursachen für diese Entwicklung sucht, kommt man auf jeden Fall an den Medien nicht vorbei, durch die wir mit sexuellen Reizen überflutet werden. Die bunte Medienlandschaft gaukelt uns eine Scheinwelt vor, in der Sexualität allgegenwärtig ist.
Alles ist zu sehen, alles wird diskutiert. Doch über ihre eigene Sexualität reden die Menschen immer weniger miteinander. Im Bett verkümmern Kreativität und Phantasie.
Sie scheinen wie übersättigt und reagieren mit Verweigerung. Zudem wird in den Medien so getan, als gebe es keine Tabus mehr, als sei nichts mehr verboten – dabei schmecken die verbotenen Früchte aus Nachbars Garten doch am besten! Schwächen und Probleme kommen – außer in Skandalform – in der medialen Scheinwelt nicht vor oder sind nicht erlaubt. Stellt sich dagegen im realen Leben eine „Schwäche“ ein – weil Mann eben nicht jede Nacht kommt –, kann dies in der Lustlosigkeit enden. Das Ergebnis: Wir sind durch die mediale Sexualität nicht nur übersättigt, sondern fühlen uns auch durch die vorgegebenen Maßstäbe überfordert.
Ein Weg, der aus der Übersättigung hinaus und hin zu mehr Lust führt, ist die Phantasie. Jeder Mensch hat seine eigenen sexuellen Phantasien, deren Wurzeln – ihm unbewusst – in seiner Kindheit liegen. Entdeckt man diese Phantasien, kann man sie sich gemeinsam mit dem Partner weiter ausmalen, erweitern und vielleicht sogar teilweise umsetzen. Äußert auch der Partner seine Wünsche und Vorstellungen, entwickelt ein Paar eine individuelle Sexualität, die Jahr für Jahr interessanter und erfüllender werden kann – oder aber eine, die sich zumindest ständig verändert.
